Alles hat ein Ende

4 Jan

2013 ist über uns hereingebrochen. Während wir mit Sekt und Knallerbsen ins neue Jahr feierten, wurde der Redrock nach seiner Ruhepause in Bogotá erneut gestartet. Adieu, alter Knabe, auf zu neuen Abenteuern!

Er wurde an einen deutschen Kajakbegeisterten verkauft, der ihn zu Wildwasserraftings mitnehmen wird. (Nein, Redrock startet nicht mit im Wasser, sondern wartet geduldig am Ufer.) Aktuell befindet er sich im Dschungel Ecuadors. Auch die Grenzüberquerung mit den wackligen Papieren hat bestens funktioniert. Wir wünschen Redrock und seinem neuen „Herrchen“ alles Gute, möge der Motor noch eine Weile rasseln.

Und euch allen da draußen wünsche ich ein ganz tolles Jahr voller Überraschungen! Ab und zu werde ich vielleicht mal etwas posten, je nachdem, ob sich Berichtenswertes ereignet. Spätestens bei der nächsten Reise wird der Blog wieder voll aktiviert, bleibt also dran.

Redrock als Lastenelefant

Hundemenschen

9 Dez

Unser spritziges TrioLoriot meinte: „Ein Leben ohne Mops ist möglich, aber sinnlos“. Ich kann ihm da nur beipflichten. Als Lupita plötzlich nicht mehr da war, erschien jeder hundelose Spaziergang unsinnig. Was stapfe ich hier allein in der Gegend herum? Warum liegt mir niemand beim Kochen zwischen den Beinen?

Deshalb haben wir uns nach einigem Abwägen doch noch entschlossen, ein neues Hündchen in unsere Minifamilie aufzunehmen, nämlich Fine. Sie ist neun Wochen alt, ihre Mama ist ein Jack Russell, ihr Papa ein Beagle. Sie kommt aus Wildberg in der Nähe von Neustadt (Dosse), ist also eine waschechte Brandenburgerin. Herzlich willkommen, Fine!

Frohe Weihnachten!

Gleichgewichtsstörung

17 Nov

Was zuerst auffällt, wenn man nach langer Zeit nach Deutschland zurückkehrt, ist die Präsenz des Staates. Jedes kleine Schild, jeder Strich auf der Straße, jede Parkbank ist genormt und geeicht – im ganzen Land bietet sich dasselbe Bild.

Der Verkehr fließt zügig und effizient, alle Geräte funktionieren, das Personal ist nicht besonders freundlich, aber qualifiziert. Auf dem endlosen Gang zur Gepäckausgabe läuft neben mir ein Geschäftsmann, der aufgebracht in sein Handy spricht: „Ja, aber bei solch einem aufwendigen Prozedere muss es doch Regeln geben!“, wirft er seinem Gesprächspartner vor. Wenn es keine Regeln gibt, ist was faul in Deutschland. Es verursacht Verunsicherung und Aggression. Die Welt ist richtig, wenn man ein Regelwerk vorweisen kann, falsch, wenn Regeln nicht klar formuliert und aufgeschrieben werden. Denn es gibt sie ja immer, auch im größten Chaos, bloß die Prioritäten sind andere.

Der Gepäckwagen kostet zwei Euro, die wir natürlich nicht in der Hosentasche zu stecken haben, also müssen wir unsere Rucksäcke, Taschen und Koffer zerren und schieben. Die Businessmänner und -frauen ziehen einen kleinen Rollkoffer, wir hingegen sehen aus wie eine überladene Alpakaherde. Endlich finden wir den Ausgang aus dem Flughafenkomplex. Claudius´ Mutter wartet schon aufgeregt.

Die Autofahrt führt an bunten Herbstwäldern vorbei. Ich freue mich besonders über den Anblick der Birke, mein Lieblingsbaum. Fein leuchtet das Weiß ihres grazilen Stammes durch die Dämmerung. Am Himmel scheinen sich verspätete Fluggänse auf die Reise nach Ayampe zu begeben.

Und sonst? Stefan Zweig schreibt: „Jede Form von Emigration verursacht an sich schon unvermeidlicherweise eine Art von Gleichgewichtsstörung. Man verliert – auch dies muss erlebt sein, um verstanden zu werden – von seiner geraden Haltung, wenn man nicht die eigene Erde unter sich hat, man wird unsicherer, gegen sich selbst misstrauischer.

Zweig versteht das wohl als Kritik, er beklagt sich über das zusammengebrochene Europa, über das Zwangsexil, in das er vor den Nazis flüchten musste. Ich bin freiwillig „emigriert“, wenn man so will, würde ihm jedoch trotzdem zustimmen: Den Zustand der „Gleichgewichtsstörung“ habe ich genossen. Das Misstrauen gegen die eigenen Überzeugungen oder die selbstgerechte Gewissheit über richtig und falsch bleiben vielleicht eine Weile bestehen, wenn man zurückkehrt. Ich habe mich schon immer über uns Deutsche gewundert, nun noch ein bisschen mehr. Aber ich mag dieses exotische Land, diese flachen Felder mit den Nadelwäldern, die bunten Ahornblätter, das harte Brot, ich will es mögen lernen.

Endspurt

13 Nov

Lupita ist in Canoa, einem ecuadorianischen Badeort am Pazifik, an einer Vergiftung gestorben. In derselben Nacht haben wir ihren Körper am Strand begraben und am nächsten Tag den Ort verlassen, unsere Flüge umgebucht und Kurs auf Bogotá genommen, weil wir einfach nur noch nach Hause wollen. Durch die Trauer haben wir keinen Sinn mehr für die schöne Landschaft.

Nach fünf Tagen Autofahrt erreichten wir vorhin die kolumbianische Hauptstadt: unfallfrei, aber auch sehr k.o. Der Redrock wurde geputzt und ein letztes Mal in der Werkstatt untersucht, vor einigen Minuten haben wir ihn an den Zwischenhändler abgegeben. Der deutsche Käufer wird erst in einem Monat in Kolumbien eintreffen, so lange steht er sicher im Innenhof eines Hotels.


Morgen ist der letzte Tag in Lateinamerika. Wir wollen das Goldmuseum besuchen und lecker essen gehen, um die letzten zwei Jahre gebührend ausklingen zu lassen. Nun ist alles anders gekommen als geplant. Dadurch, dass Lupita uns nicht nach Europa begleitet, ist eine Ernüchterung eingetreten, die jedoch hoffentlich bald verfliegt, wenn wir dann wirklich zu Hause sind.

Heimat. Wir kommen!

Untröstlich

8 Nov

Wir trauern um Lupita, unsere einzigartige Hündin,
die wir über alles geliebt haben.

Sie starb im Alter von fast anderthalb Jahren am 7. November 2012 in den frühen Abendstunden durch Rattengift. Wir werden sie nie, nie, nie vergessen.

Für immer untröstlich, Sue & Claudius

„Ist gar nicht zu verfehlen!“

28 Okt

Karl Jaspers, ein deutscher Philosoph, hat wohl mal gesagt: „Heimat ist da, wo ich verstehe und verstanden werde.“

Das ist schön festgestellt. Es beinhaltet natürlich ein „Verstehen“, das über bloße Vokabeln hinausgeht, obwohl man auch an denen ernsthaft verzweifeln könnte. Ein Wort transportiert seine Bedeutung kontextabhängig; wenn man den Kontext nicht kennt oder versteht, nützt einem die Vokabel nur halb so viel.

Beispiel für eine alltägliche Wegbeschreibung

Wir befinden uns in einer mittelgroßen Stadt auf der Durchreise. Irgendwie sind wir ins Stadtzentrum geraten, anstatt es galant auf der Umgehungsstraße zu umfahren. Da die Stadt nur als kleiner Punkt auf unserer Karte existiert, müssen wir uns (wie immer) durchfragen. Also in die Hände gespuckt und rein ins Getümmel, Frageopfer aussuchen, bremsen, lächeln: „Guten Tag, wie geht es Ihnen? Wir suchen die Ausfahrt nach Santa Maria. Können Sie uns weiterhelfen?“
Der Befragte, ein dicker Mann im besten Alter, Schnurrbart, offenes Hemd, Hut, mustert mich kurz, faßt sich dann in kennerhafter Denkerpose ans Kinn. „Nach Santa Maria? Aber das ist weit weg!“ Santa Maria scheint er mir offensichtlich nicht ganz zuzutrauen.
– „Äh, ja. Wieso? Wie weit denn?“
– „Na, das ist… mit Ihrem Auto… hm.“ Er tritt zurück und taxiert den Wagen. „Ungefähr eine halbe Stunde.“ (Ist das langsam oder schnell? Wie hat das Auto abgeschnitten?)
Gut, also nochmal, zuckersüß und freundlich: „Und wie komme ich dahin? Wie komme ich aus dieser Stadt raus, um nach Santa Maria zu gelangen?“
Etwas unwillig überlegt er. „Ja, am besten nehmen Sie die Avenida Bolívar. Bis zum Krankenhaus. Dann kurz nach oben. Ist eigentlich nicht zu verfehlen.“ Sein leicht spöttischer Ton zeigt an, dass er die Frage für ziemlich dumm hält, schließlich müsste man in meinem Alter eigentlich wissen, wie man nach Santa Maria kommt.
– „Und diese Avenida Bolivar, wo ist die? Ich bin nämlich nicht von hier, wissen Sie?“
Er nickt verständnisvoll, als Frau bin ich eben von Natur aus ein bißchen begriffsstutzig. Der Herr hält sich nicht weiter mit mir auf und wendet sich direkt an den Fahrer Claudius, wodurch er an meinem Gesicht vorbei ins Wageninnere sprechen muß. Unter Männern kann man die Angelegenheit sicherlich schnell klären.
– „Die Avenida Bolívar, Mister? Na, da fahren Sie jetzt hier einfach geradeaus, bis Sie am Friedhof vorbeikommen. Da fahren Sie hoch…“ Claudius versteht aber nicht genug Spanisch und kann nur dementsprechend gucken. Ich interveniere abermals:
– „Links hoch oder rechts hoch?“ Er zeigt mit dem Arm nach rechts und versichert: „Links hoch, am Friedhof links hoch.“
Ich bin etwas ratlos, lasse mich aber nicht unterkriegen: „Nach dem Friedhof also hier hoch“, ich wackele mit meinem rechten Arm, „und dann?“
Er stutzt, überlegt, zögert. Dann hat er eine bessere Idee: „Nein, nein, fahren Sie besser über die Calle 10. Vorne wird gebaut, das dauert ewig.“
Aha. Ich schlucke und konzentriere mich.
– „Und wie gelange ich zur Calle 10?“ Ich schenke dem Herrn mein schönstes Zahnpastalächeln.
– „Ganz einfach, zwei cuadras nach vorn, dann drei nach oben…“
– „Alles klar. Und da ist dann die Ausfahrt nach Santa Maria, nicht wahr?“
Ich habe jetzt auch keine Lust mehr. Neben mir macht Claudius sein genervtes „Kann ja nicht so schwer sein, mal kurz nach dem Weg zu fragen“-Gesicht, Lupita drängt auf meinen Schoß und möchte mal den leckeren Schnurrbart des Herrn kosten. Der ist jetzt verwirrt: „Santa Maria, achso, jaja. Ich dachte, Sie wollen zum Friedhof.“
Und so weiter…

Allein für „geradeaus“ gibt es viele Vokabel-Möglichkeiten: „largo“ (lang), „recto“ (gerade), „derecho“ oder „directo“ (direkt), „adelante“ (vorwärts), „para arriba /abajo“ (nach oben /unten). Oft werde ich komplett ignoriert, weil man einer Frau nicht zuzutrauen scheint, dass sie die zugegebenermaßen komplizierten Erklärungen (siehe oben) verstehen könnte. Nicht selten antwortet ein befragter Mann ausschließlich zu Claudius (obwohl ich ihn etwas gefragt habe), der mich in dem Kauderwelsch hilfesuchend anguckt und dem ich schließlich übersetze, woraufhin Claudius auf Deutsch etwas nachfragt und ich diese Frage wiederum ins Spanische übersetze. Als Dolmetscherin werde ich akzeptiert, als Ansprechpartnerin oft nur unwillig nach dem gescheiterten von-Mann-zu-Mann-Versuch.

Frauen fragen wir nicht mehr, da sie bei bisherigen Versuchen gar keine Ahnung hatten und uns oft auf´s Geratewohl ins Blaue schickten. Dazu muß man noch erklären, dass es hierzulande als grob unhöflich angesehen wird, einem Fremden die Bitte nach einer Wegbeschreibung mit „Ich weiß es leider auch nicht“ zu beantworten; im Zweifelsfall ist daher Fantasie gefragt. Oder Pragmatismus, wie bei der Omi, die meinte: „Ach, ganz einfach, fahren Sie einfach der Buslinie 20 hinterher. Der Bus müßte bald kommen.“

América, mi amor…

18 Okt

Mi querida América,

als ich 15 Jahre alt war, betrat ich erstmals deinen aufregenden Asphalt. Ich erinnere mich noch genau an den Flughafen von Managua. Die Luft flimmerte vor Hitze und neben dem Begrüßungslärm der anwesenden Nicaraguaner hörte ich papageienartige Laute von unsichtbaren Vögeln und das Singen scheinbar tausender Zirkaden. Die Liebe traf mich wie ein Blitz: „Das sind meine Erden, hier möchte ich dazugehören.“

Dieser Moment ist mehr als 16 Jahre her. Inzwischen habe ich dich an der Universität studiert, spreche deine Sprache fast wie meine eigene und kenne dein Antlitz detaillierter als das Europas. Mexiko, Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Kolumbien, Ecuador, Peru, Bolivien, Uruguay, Chile und Argentinien habe ich bereist, mehr als dreieinhalb Jahre meines Lebens habe ich bei dir verbracht, oft fühlte ich mich hier eher zu Hause als „daheim“, in Berlin.

Ich mochte anfangs bedingungslos alles, was mir fremd war – weil es mir fremd war. Ich hatte das Gefühl, bei dir ein ganz anderer Mensch sein zu können, freier und unbeschwerter als in Deutschland. Du warst eine Traumwelt, in die ich regelmäßig flüchtete, wenn mir das reale Leben in Berlin gegen den Strich ging. Ich fühlte mich stärker, unabhängiger und geselliger, dabei  war ich oft ganz allein unterwegs. Alles war intensiver mit dir, die Farben, die Gerüche, die Gefühle. War ich fort, vermisste ich dich, oder besser: Ich vermisste die Sue, die ich mit dir sein konnte.

Meine schönsten Jahre habe ich bei dir verbracht. Der Kontrast zwischen hier und dort hat mich aufgerieben, zum Nachdenken angeregt, zum Handeln motiviert und vor allem immer wieder inspiriert, wenn ich mir selbst die Frage stellte: „Was für ein Mensch möchte ich sein, für dich, für mich, für alle anderen?“ Die Wohlstandsblase, in der ich aufwuchs, bereitet mir immer noch ein schlechtes Gewissen, aber heute weiß ich, dass ein schlechtes Gewissen auch keinen besseren Menschen aus mir macht und zudem ein katastrophaler Ratgeber ist.

In der Fremde stellte ich zum ersten Mal fest, dass ich eine Europäerin bin. Und eine junge Deutsche, nicht zuletzt Berlinerin, Ostberlinerin. Dass ich Westlerin bin, Kapitalistin, eine gringa, eine Weiße, eine Blonde, dass ich für manche „reich“ bin und „emanzipiert“. Das wußte ich theoretisch vorher, doch mit dir habe ich gelernt, mich so zu fühlen. Das war nicht immer schön, oft sogar schmerzlich.

Ohne dich hätte ich vieles immer noch nicht verstanden. Ohne dich hätte ich die wichtigsten Fragen vielleicht gar nicht gestellt. Du wirst vermutlich ein Leben lang nach mir rufen. Dieses leichte Ziehen in der Leistengegend, wie ein zaghaftes Seitenstechen zerrst du an mir. Ich werde immer ein wenig unbequem zwischen beiden Welten sitzen, eine Pobacke links, die andere rechts. Mal zwickt es hier, dann drückt es wieder dort.

Ja, du ahnst es bereits, querida América, das ist ein Abschiedsbrief. Diese letzte Reise war ich fast zwei Jahre bei dir. Auch diesmal bin ich in deine Arme geflüchtet, ein nervenzehrender Job in Deutschland, das Hamsterrad, die Tretmühle. Wenn ich morgens mit der S-Bahn anderthalb Stunden in mein graues Büro gefahren bin, dachte ich an die papageienartigen Vogellaute, den Wind in meinem Haar und die Intensität, die ich aus jeder Lebensminute quetschte, wenn ich bloß bei dir sein könnte. Warum sollte ich ausgerechnet in Berlin leben, wenn es auf der Erde doch so wunderschöne Plätze gibt, fragte ich mich. Das Leben ist anderswo, das Glück ist anderswo, die Liebe ist anderswo und die Zukunft auch. „Anderswo“, das warst stets du.

In den letzten zwei Jahren hatte ich Liebeskummer. Ich mußte einsehen, dass ich die Freiheit und Kraft, nach denen ich mich sehne, nicht finden kann, solange ich sie nicht in mir selbst suche und dass du als Fantasiewelt leider gar nichts taugst. Im Gegenteil, dein unerbittlicher Realismus lässt mich eherDeutschland wie einen wahr gewordenen Traum aus rosa Plüsch empfinden.

Die vielen Menschen, mit denen ich gesprochen habe, ließen mich in ihr Herz blicken. Es gab Freunde und Feinde, Schwätzer, Dichter und Denker wie überall auf der Welt, mit kleinen und großen Sorgen, mit Beziehungsstress oder hohen Schulden, mit wackeligen Zähnen und bemalten Mündern, wie hier und dort. Ich habe viel übers Menschsein gelernt, doch Menschen gibt es überall.

Wenn ich dich das nächste Mal besuche, dann wie eine gute Freundin oder einen langjährigen Kumpel. Laß uns Freunde bleiben.

Deine Sue

Kaffee und Krieg

13 Okt

Nick stammt aus Florida und sagt, deswegen könne er ohne das Meer nicht leben. Ich nicke zustimmend, als wäre auch ich an der Küste aufgewachsen, und schaue auf die Wellen, die vor unserem Frühstückstisch um diese Tageszeit ruhig und gleichmäßig heranrollen. Mandarinensaft, mit Käse gefüllte Crepes und Kaffee für mich, er hält bereits sein erstes Bier in der Hand. Als Surfer war er schon den ganzen Morgen im Wasser, als nächtliche Leseratte bin ich hingegen gerade erst aufgestanden.

Was als Smalltalk über Wetter und Wellen beginnt, endet in einer verstörenden Unterhaltung. Als Berufssoldat war Nick zwei Jahre lang im Irak stationiert. Er war der Truppenführer von 18jährigen Jungs, die er beschwichtigen mußte, nicht wild herumzuschießen aus Angst, selbst erschossen zu werden. Die Kämpfer der Taliban, meist genauso jung wie seine eigenen Waffenbrüder -er nennt sie „brothers“-, habe er lieber einsperren und verhören wollen, tot hätten sie ja niemandem genutzt. Wieder nicke ich zustimmend, was anderes fällt mir nicht ein. Ich versuche, meine innere Bestürzung nicht im Gesicht wiederspiegeln zu lassen und staune ihn ausdruckslos an. Wie verhält man sich gegenüber einem Kriegsveteranen?

Warum junge Männer für die Taliban kämpfen, frage ich. „Sie bekommen ein Kopfgeld. Für eine amerikanische Soldatenleiche gibt es das meiste Geld, aber auch für Schutzhelme, Gewehre, feindliche Munition…“ Müsse man den Talibanchefs den toten Körper vorlegen, um die Provision zu kassieren? „Nein, ein Foto mit dem Handy reicht aus. Dazu ein abgeschnittener Finger, ein loses Ohr, das genügt als Beweis.“

Ich kippe Milch in den Kaffee und nehme den Mund voll, damit ich etwas hinunterschlucken kann. Der Krieg sitzt mit am Tisch, ein merkwürdiges Gefühl. In meiner Welt existiert er nur in den Nachrichten, in Zeitungsartikeln, vielleicht in Kinofilmen, aber nicht am eigenen Frühstückstisch.

Und warum kämpft man gegen die Taliban? In einem fremden Land? Diese Fragen traue ich mich nicht zu stellen, sie könnten ihn verärgern. Nick erzählt, er habe im Monat 1250 Dollar verdient, Gefahrenzulage 250 Dollar – des Geldes wegen war er also nicht dort. In seiner Abwesenheit habe ihn seine Frau verlassen, Kinder hatten sie keine. „I am very alone now“, sagt er. Und dass er sich wünschen würde, „all das“ sei nicht passiert. Ich nicke wieder benommen.

Kannst du schlafen?, frage ich, denn ich erinnere mich an die Berichte von Tausenden traumatisierter Soldaten in den USA, aber mittlerweile auch in Deutschland. Posttraumatisches Irgendwas, viele nehmen sich das Leben, finden nicht in die Gesellschaft zurück. „Mit Gras, mit Bier, ja. Hier am Meer, ja.“ Aber es falle ihm schwer in der Stadt, wenn es lärmig und grell sei. Er habe sein Gehör fast völlig verloren, deshalb vermeide er Partys: „I don´t understand the people anymore“. Ich überlege, ob er damit das akustische Problem meint oder eher generell spricht, frage aber auch das nicht. Zu intim, befürchte ich.

Einmal stand er im Supermarkt an der Kasse und die Leute beschwerten sich, dass es nicht schnell genug gehe. Da sei er innerlich sehr wütend geworden: „These people don´t know how lucky they are.“ Aber er sei genauso gewesen, „all das“ habe ihn nun einmal sehr verändert. Er sagt niemals „the war“, sondern einfach nur „it“. Sein Therapeut habe ihm geraten, sich an die guten Sachen zu erinnern, an die Fußballspiele in den Dörfern, an die gemeinsamen Trainingseinheiten mit irakischem Militär, an das Lachen, daran, dass ihnen manche Menschen zugewunken hätten. Nachts jedoch schleichen sich die „schlechten Sachen“ in seine Träume zurück. Verfolgungsangst, Todesangst, Tod.

Bei einem Einsatz wurde sein Jeep von einer Bombe getroffen. Kurz vor der Explosion gab es einen elektromagnetischen Impuls, das Lenkrad sah verschwommen aus, sein Arm fühlte sich an wie Gummi. Dann flog alles in die Luft.

Er wurde so schwer verletzt, dass er drei Jahre brauchte, um einigermaßen zu genesen. Reha, Physio- und Psychotherapie, viele Medikamente, starke Schmerzmittel. Als er aufwachte, war die Frau weg und er mußte einen Grund finden, gesund zu werden. Nun bekommt er eine monatliche Pension ausbezahlt und gilt mit 37 Jahren als Frührentner. Er solle Sport machen, um keine Schmerzen zu haben. Da hat er sich ans Surfen erinnert, das er als Junge mochte. Darum sei er hier, bei den Wellen.

Ich sage ihm, dass nun sein zweites Leben beginne, dass er sich irgendwann wieder verlieben werde, dass er mit Plan B starten könne. Diese hilflosen Beschwichtigungen hat er wohl schon oft gehört, er wehrt ab, es sei alles verdammt lang her. Dann steht er auf, holt ein frisches Bier aus dem Kühlschrank und verabschiedet sich: „Hasta luego.“ Ach ja, wir sind ja in Ecuador.

Zurück in Ayampe

24 Sept

Es soll ja Leute geben, die seit zwanzig Jahren in derselben Hotelanlage Urlaub machen. Jedes Jahr kehren sie dorthin zurück, rufen die Kellner beim Vornamen und sind heilfroh, dass sie sich mit keinen unangenehmen Überraschungen herumschlagen müssen. Für solche Wiederholungstäter habe ich bisher nur wenig Verständnis aufbringen können, denn die Welt ist groß und schön, man lebt sehr wahrscheinlich nur einmal, warum also Gesehenes noch einmal sehen?! Inzwischen erscheinen mir ihre Argumente jedoch vollkommen nachvollziehbar.

Lange Rede, kurzer Sinn: Wir sind vor einigen Tagen wieder in Ayampe an der ecuadorianischen Pazifikküste angekommen, wo wir bereits einen Monat verbracht haben. Nach einer anstrengenden Erledigungswoche in Quito haben wir unsere Zelte abgebrochen, um endlich ans Meer zurückzukehren. Ursprünglich wollten wir unser Lager in dem Fischerdorf Mompiche weiter nördlich aufschlagen, aber das Örtchen ist so dermaßen abgelegen, dass es dort kaum Einkaufsmöglichkeiten und keine Bungalows mit Kochmöglichkeit gibt. Außerdem waren die Hunde am Strand gereizt und bissig, Lupita konnte ihnen nur knapp entkommen.

Wir haben keine Lust mehr auf Experimente. Wir wollen nicht mehr suchen und fragen müssen. Es ist anstrengend genug, sich immer wieder provisorisch einzurichten, zumal das Provisorium sich in der letzten Zeit ja mehrmals als „geht gar nicht“ herausgestellt hat. Claudius erklärte sich bereit, die acht Stunden bis Ayampe durchzufahren , weil er sicher sein konnte, dass hier alles so läuft, wie er es gebucht hat.

Und so war es dann auch: In unserer Hütte am Strand sind wir die einzigen Gäste, der Fischmarkt in Puerto López schwillt über vor günstigem, frischen Fisch, Nancy und ihre Kinder freuen sich über das unverhoffte Wiedersehen, die Hängematten hängen, die Wellen tosen, Lupita ist fröhlich. Ich kann sogar eigene Fotos in meinen Blog einstellen, allerdings aus der Konserve, aber viel hat sich in den vergangenen zwei Monaten seit unserem Aufbruch eh nicht getan. Mindestens vier Wochen wollen wir hier bleiben, bis wir Meer aus allen Poren atmen und uns gewappnet fühlen für die Rückkehr nach Kolumbien und in zehn Wochen bald auch nach Deutschland.

Zwinkernde Shakiras

12 Sept

Im kolumbianischen Örtchen San Agustín wurden ganz besondere Steine gefunden: das untere Ende ist spitz zugehauen, damit man sie in die Erde rammen kann, der Rest wurde zu verschiedenen Abbildern gemetzt. Es gibt Jaguare, Adler, Eulen, böse Geister, gute Dämonen und alle möglichen Gottheiten -darunter Chaquira, nach der auch die Pop-Diva Shakira benannt ist, Kolumbiens berühmtestes Exportprodukt. Fast alle Skulpturen haben einen verschmitzten Gesichtsausdruck, manche zwinkerten mir zu. Da niemand genau weiß, wieso, weshalb, warum, wurden die kunstfertigen Steinmetze einfach „San-Agustín-Kultur“ genannt, von der so gut wie nichts bekannt ist. Die meisten Figuren sind vor etwa 5300 Jahren hergestellt worden, vor unvorstellbar langer Zeit. Was die schon alles gesehen haben!

Abay hat uns das alles erklärt. Er stellte sich vor: „Ich heiße Hawai, wie die Insel.“ So sprechen wir seinen Namen wenigstens halbwegs richtig aus, muß er sich überlegt haben. Der ältere Herr war Retter in der Not, als wir nach einer 12-Stunden-Fahrt eine matschige Steigung unterschätzt haben und mit dem Redrock im Graben stecken geblieben sind. Zusammen mit seinem Kumpel hat er uns wieder frei gebuddelt, weil wir dafür schon viel zu kaputt waren. Zwar wollte er kein Trinkgeld für die erfolgreiche Rettungsaktion, aber wir ließen uns einen vierstündigen Ausritt auf Pferden aufschwatzen. Hätten wir uns nicht dazu verpflichtet gefühlt, wäre er sicher abgewimmelt worden, aber so… verhalf uns Abay zu einem der schönsten Tage.

Lupita lief aufgeregt neben den Pferden her und war heilfroh, als wir von diesen merkwürdigen Biestern, die keine Lust zum Spielen haben, endlich wieder zu ihr herabstiegen. Wir sind durch die Landschaft galoppiert, getrippelt, gehoppelt, getrabt – es war wunderbar. Allerdings tut mir der Hintern immer noch weh. Claudius ist nun endgültig zum Cowboy avanciert.

Abay hat erzählt, dass er auf diesen touristischen Ausflügen manchmal den Guerilleros begegnet. Sie grüßen nett, halten ein bißchen Smalltalk, „genauso wie bei den Checkpoints des Militärs, sie sind eben das andere Militär“. Naja…, ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, bin halt nicht wie alle Kolumbianer in einem ewigen Bürgerkrieg groß geworden, mit dem ich mich arrangieren mußte.

Als uns ein LKW entgegenkommt, an den „ELN“ gesprüht ist – die zweite, kleinere Guerilla neben der FARC – setzt mein Herz vor Schreck für einen Moment aus. Später sehe ich Soldaten, sie füllen Säcke mit Sand: „Wozu? Na, für Schützengräben.“ Ich hatte an Überschwemmungen und improvisierte Deiche gedacht, ich dummes Touristenkind. Die Atmosphäre erinnert mich an die alltäglichen Grausamkeiten und Traurigkeiten, die mir vor Jahren im bürgerkriegsgeschüttelten Guatemala aufgefallen sind. Wie auch immer, ich muß nicht in einem Gebiet vergnügungsreisen, in dem Menschen erschossen, LKWs abgebrannt, Drogen hergestellt, heiße Verhandlungen geführt werden – das fühlt sich total falsch an.

Deshalb schreibe ich euch auch schon wieder aus Quito. Es hat uns zwei Tage gekostet, ein neues Visum für Ecuador zu beantragen. In der nasskalten Grenzstadt Ipiales mußten wir ausharren, weil irgendwelche Formulare nicht vorrätig waren, aber nach zähen Verhandlungen und Gebühren haben wir weitere drei Monate für uns und Redrock bekommen. Unser erstes Ziel ist Trümmer-Gerd mit seiner Hamburger Schnauze mitten im Zentrum der ecuadorianischen Hauptstadt: „Watt denn, ihr schon wieder? Na, ist jut, kommt rein, ich mach euch auf.“