Mi querida América,
als ich 15 Jahre alt war, betrat ich erstmals deinen aufregenden Asphalt. Ich erinnere mich noch genau an den Flughafen von Managua. Die Luft flimmerte vor Hitze und neben dem Begrüßungslärm der anwesenden Nicaraguaner hörte ich papageienartige Laute von unsichtbaren Vögeln und das Singen scheinbar tausender Zirkaden. Die Liebe traf mich wie ein Blitz: „Das sind meine Erden, hier möchte ich dazugehören.“

Dieser Moment ist mehr als 16 Jahre her. Inzwischen habe ich dich an der Universität studiert, spreche deine Sprache fast wie meine eigene und kenne dein Antlitz detaillierter als das Europas. Mexiko, Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Kolumbien, Ecuador, Peru, Bolivien, Uruguay, Chile und Argentinien habe ich bereist, mehr als dreieinhalb Jahre meines Lebens habe ich bei dir verbracht, oft fühlte ich mich hier eher zu Hause als „daheim“, in Berlin.

Ich mochte anfangs bedingungslos alles, was mir fremd war – weil es mir fremd war. Ich hatte das Gefühl, bei dir ein ganz anderer Mensch sein zu können, freier und unbeschwerter als in Deutschland. Du warst eine Traumwelt, in die ich regelmäßig flüchtete, wenn mir das reale Leben in Berlin gegen den Strich ging. Ich fühlte mich stärker, unabhängiger und geselliger, dabei war ich oft ganz allein unterwegs. Alles war intensiver mit dir, die Farben, die Gerüche, die Gefühle. War ich fort, vermisste ich dich, oder besser: Ich vermisste die Sue, die ich mit dir sein konnte.

Meine schönsten Jahre habe ich bei dir verbracht. Der Kontrast zwischen hier und dort hat mich aufgerieben, zum Nachdenken angeregt, zum Handeln motiviert und vor allem immer wieder inspiriert, wenn ich mir selbst die Frage stellte: „Was für ein Mensch möchte ich sein, für dich, für mich, für alle anderen?“ Die Wohlstandsblase, in der ich aufwuchs, bereitet mir immer noch ein schlechtes Gewissen, aber heute weiß ich, dass ein schlechtes Gewissen auch keinen besseren Menschen aus mir macht und zudem ein katastrophaler Ratgeber ist.

In der Fremde stellte ich zum ersten Mal fest, dass ich eine Europäerin bin. Und eine junge Deutsche, nicht zuletzt Berlinerin, Ostberlinerin. Dass ich Westlerin bin, Kapitalistin, eine gringa, eine Weiße, eine Blonde, dass ich für manche „reich“ bin und „emanzipiert“. Das wußte ich theoretisch vorher, doch mit dir habe ich gelernt, mich so zu fühlen. Das war nicht immer schön, oft sogar schmerzlich.

Ohne dich hätte ich vieles immer noch nicht verstanden. Ohne dich hätte ich die wichtigsten Fragen vielleicht gar nicht gestellt. Du wirst vermutlich ein Leben lang nach mir rufen. Dieses leichte Ziehen in der Leistengegend, wie ein zaghaftes Seitenstechen zerrst du an mir. Ich werde immer ein wenig unbequem zwischen beiden Welten sitzen, eine Pobacke links, die andere rechts. Mal zwickt es hier, dann drückt es wieder dort.
Ja, du ahnst es bereits, querida América, das ist ein Abschiedsbrief. Diese letzte Reise war ich fast zwei Jahre bei dir. Auch diesmal bin ich in deine Arme geflüchtet, ein nervenzehrender Job in Deutschland, das Hamsterrad, die Tretmühle. Wenn ich morgens mit der S-Bahn anderthalb Stunden in mein graues Büro gefahren bin, dachte ich an die papageienartigen Vogellaute, den Wind in meinem Haar und die Intensität, die ich aus jeder Lebensminute quetschte, wenn ich bloß bei dir sein könnte. Warum sollte ich ausgerechnet in Berlin leben, wenn es auf der Erde doch so wunderschöne Plätze gibt, fragte ich mich. Das Leben ist anderswo, das Glück ist anderswo, die Liebe ist anderswo und die Zukunft auch. „Anderswo“, das warst stets du.

In den letzten zwei Jahren hatte ich Liebeskummer. Ich mußte einsehen, dass ich die Freiheit und Kraft, nach denen ich mich sehne, nicht finden kann, solange ich sie nicht in mir selbst suche und dass du als Fantasiewelt leider gar nichts taugst. Im Gegenteil, dein unerbittlicher Realismus lässt mich eherDeutschland wie einen wahr gewordenen Traum aus rosa Plüsch empfinden.

Die vielen Menschen, mit denen ich gesprochen habe, ließen mich in ihr Herz blicken. Es gab Freunde und Feinde, Schwätzer, Dichter und Denker wie überall auf der Welt, mit kleinen und großen Sorgen, mit Beziehungsstress oder hohen Schulden, mit wackeligen Zähnen und bemalten Mündern, wie hier und dort. Ich habe viel übers Menschsein gelernt, doch Menschen gibt es überall.
Wenn ich dich das nächste Mal besuche, dann wie eine gute Freundin oder einen langjährigen Kumpel. Laß uns Freunde bleiben.
Deine Sue